Freitag, 12. November 2010

Leidenschaft zu leiden

Zugegeben beschäftigt mich das Thema schon einige Zeit, aber erst diese Woche hat sich die Lage verschärft und ich fühle mich innerlich gezwungen, es blogtechnisch zu verarbeiten. Neulich las ich was bei Kierkegaard und seiner "Krankheit bis zu Tode" (Verzweiflung) und wurde dann zu den Gedanken zum Leiden akkurat gelenkt. Ich, Humanist im tieferen Innen, werfe den meisten Leuten vor, dass sie leiden unbewusst mögen.

In der russischen Webwelt (sie spielt sich vor allem auf dem Server von livejournal.com) erfuhr ich vor paar Jahren über die Viktimologie (Wissenschaft zu Opfer). Ich kenne mich nicht richtig in der Opferforschung aus (vll. bekomme ich da mal professionelle Unterstützung von Jenny, falls sie sich doch für ein Psychologie-Studium entscheidet), von daher nur meine bescheidene Vermutungen zu dieser Thematik. In meiner Sicht bekennt man sich gerne zu einem Opfer. Dabei sind die vermeintlichen Täter sein Leben und äußerliche Umstände. Wenn die Rolle des Opfers angezogen wird, beginnt sein Engagement dankbares Selbstmitleid. Und es findet immer genug Spielraum! Und es macht auch angeblich Spaß! Wenn man dabei kein Spaß hätte, gäbe es Selbstmitleid und sein treuer Begleiter - Weinen - nicht und auch keine Selbstmordfälle, die nach meiner Meinung eine Krönung des Selbstmitleids sind.

Am besten schauen wir mal Fallbeispiele an. Am letzten Wochenende spielte ich hier im Blogger mit dem "nächsten Blog" rum, also, der Button oben rechts. Beim Anklicken landet man zufällig auf einem Blog. Ich hatte Glück, das Blog war deutsch. Das Blogkonzept umfasste eine unglückliche Liebe. Die junge Dame schreibt mit der beneidenswerten Regelmäßigkeit über ihre letzte Beziehung. Schon ein Jahr hat ihr ehemaliger Freund von ihr getrennt und ein ganzes Jahr bloggt sie darüber. Sie erinnert sich an die gemeinsamen Ausflüge, Tage, Momente, Musik, Filme...In puncto Details bekommt sie ein großes Kompliment von mir, so viele Kleinigkeiten sind vorhanden. Eine Seite von mir kann sie völlig verstehen. Der Liebeskummer ist hart und der Schmerz ist nachvollziehbar. Andererseits spricht in mir mein moslemischer Teil, der empfiehlt, sich seelisch an den Menschen nicht binden zu lassen. Eine absolute Liebe geht an den Himmel. Ich denke, das ist wohl eine Schutzmaßnahme des Gottes und seine Art der Menschenliebe. Glückseligkeit und Liebe finden Leute zwar untereinander und miteinander, aber dass solche Zuneigung und Liebe vergänglich sein können, das weiß doch da im Oben und davor wird gewarnt. Also, die junge Bloggerin leidet schon lange 12 Monate daran, obwohl die übliche Schmerzintensität erscheint kürzer zu sein. Aber vll. macht es ihr einfach Spaß, sich immer wieder dieser Liebe zu opfern und tag-täglich Depression und Melancholie zu erleiden?

Meine Person bietet auch was zum Thema. Vorab: ich habe noch nie absolut glückliche Leute getroffen, also, wirklich dauerhaft glücklich. Man erlebt Momente, wo man denkt "Wow, jetzt ist es alles perfekt" oder "In dem Augenblick bin ich einfach 100% happy". Und das ist klasse. Die Aufrechhaltung dieses Seelenzustandes bleibt trotzdem eine große Herausforderung. Ich habe sozusagen im Vorrat oder im Gedankenkeller solch ein Objekt zum Leiden. Die Objekte wechseln sich, aber ihre Präsenz ist immer gesichert (das letzte Objekt ist übrigens etwas äußerst mieses :). Wie es funktioniert? Die Routine nimmt ihren Gang und monoton und emotionsmäßig neutral, kleine übliche Tagessorgen. Aber dann auf einmal kommen Gedanken mit dem L-Objekt runter und herrschen im Kopf einige Zeit. Später wird es für weitere unbekannte Zeit vergessen. Krank, oder? Man hat immer was, woran zu leiden, gelegentlich greift man darauf zu. Just for fun auf Kosten von Nerven, Mitmenschen.

Der langen Rede kurzer Sinn: ich bin schließlich auf die Idee gekommen, dass ständiges oder temporäres (gelegentliches) Leiden ein Teil des geistigen Immunsystems ist. Man glaubt einfach nicht, dass alles auf Dauer gut sein kann. Und um das Gleichgewicht stets zu halten, wird dieses "Just-for-fun"-Leiden ins Leben gerufen. Oder auсh dafür, um die "richtigen" Leiden abzuwenden.

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